Warum die 4% Regel wahrscheinlich scheitern wird und was Du dagegen tun kannst

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Ich hatte schon immer eine Allergie gegen dogmatische Menschen.

Es ist nichts persönliches aber von Institutionen und deren Mitgliedern, die eine kritische Auseinandersetzung mit dem Status Quo unterbinden, habe ich mich, so lange ich mich erinnern kann, eher fern gehalten. Es war dabei oft gar keine bewusste Entscheidung, sondern ein unterbewusstes Gefühl von Unwohlsein, dass mich aus dieser Umgebung weggeführt hat.

Ich kann das Verhalten aber nachvollziehen. Es ist wahrscheinlich behaglich, in einer Gruppe von Gleichgesinnten an die gleichen Sache „zu glauben“ und die einmal als „Wahrheit‘ angenommenen „Fakten“ gegen außenstehende und kritische Nachfrager aggressiv zu verteidigen. Das erzeugt Zusammenhalt.

Ich dachte früher, das bestimmte Aktivitäten von diesem Verhalten verschont bleiben, da die Sache selbst z.B. etwas genussvolles oder befreiendes ist. Zum Beispiel eine Sportart oder Menschen, die eine ähnliche Ernährungsart bevorzugen.

Mittlerweile ist mir klar, das dieses Phänomen, sich als Gruppe gegen kritische Nachfrager oder sogar neuen Fakten zu verschließen und selbst nachgewiesene Fehler der „eigenen Lehre“ zu leugnen, obwohl dem valide Daten gegenüber stehen, fast überall in unterschiedlicher Ausprägung vorkommt, wo Menschen zusammen kommen.

Ein Beispiel im Sportbereich ist z.B. das Dogma, dass ein Mensch, der gerne viel Muskelmasse aufbauen möchte, mindestens sechs Mahlzeiten am Tag zu sich nehmen sollte. Klare Forschungsergebnisse und viele Menschen, die mit zwei oder sogar nur einer großen Mahlzeit am Tag erfolgreiche Kraftsportler sind, können die Anhänger dieser alten Falschlehre nicht überzeugen. Und so rennen diese „Gläubigen“ weiterhin den ganzen Tag mit Ihren Tupperdosen durch die Gegend, um alle drei Stunden irgend etwas zu essen. Das Sozialleben leidet und gemeinsame Aktivitäten mit Menschen außerhalb dieses Bereichs werden erschwert.

Das Sportbeispiel galt hier aber nur zur Aufwärmübung zum echten Schocker: Und dieser lautet für mich, dass auch einige Menschen, die auf dem Weg in die Finanzielle Unabhängigkeit sind, dieses Verhalten zeigen. Ja, auch im Bereich der fleissigen Sparer und Investierer, werden einige Dogmen verteidigt, die bei näherer Betrachtung nicht ausreichend Substanz haben und ein Festhalten daran im aktuellen Marktumfeld nach meiner Einschätzung wahrscheinlich zu großen Schmerzen bei den Dogmenreitern führen wird.

Ich spreche nicht über den Sinn des Sparens mit möglichst hoher Sparquote oder dem Investieren dieses Geldes in den Aktienmarkt. Das sind alles Grundvoraussetzungen und extrem sinnvolle und befreiende Dinge, die sich jeder Mensch aneignen sollte. Nein, ich spreche über die Planungen zur jährlichen Entnahmerate des investierten Geldes während der finanziellen Unabhängigkeit.

Als Hintergrund zu dem Thema gab es vor ca. 20 Jahren eine Akienmarktstudie (Trinity), wie viel Geld ein US-Rentner jährlich aus seinem Rentendepot entnehmen kann, ohne dass Ihm das Geld bis zu seinem Ableben ausgeht. Als Ergebnis kam damals heraus, das bei einer 4% jährlichen Entnahmerate aus dem Depot zu Rentenbeginn und dann ausgehend von diesem Betrag jährlich um die Inflationsrate steigend, der Geldstrom mit einer Sicherheit von ca. 90% während der restlichen Lebenszeit des Rentners nicht abreisst.

Die Studie stimmt auch so weit für den US-Standartrentner. Nur als dann die ersten Menschen auf die Idee der frühen finanziellen Unabhängigkeit kamen, haben Sie, weil es damals noch nicht mehr Daten darüber gab, diese Studie zu Ihrer eigenen Planung übernommen. Jetzt dreht sich die Welt zum Glück für uns alle weiter. Neue Ideen werden geboren und Alte werden weiter entwickelt. Durch den Finanznobelpreisträger Robert Shiller haben wir zum Beispiel gelernt, dass das über zehn Jahre geglättete Kurs Gewinn Verhältnis (kgv10) oder im englischen das „Shiller CAPE“ sehr viel aussagefähiger ist, als das normale „Kurs-Gewinn-Verhältnis (kgv) und wir die Aktienmarktbewertungen (und damit die Höhe der zukünftigen Renditen) seitdem viel besser einschätzen können.

Wenn man nun dieses Shiller Cape Tool nimmt und bei der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur sicheren Depotentnahme nur Jahre betrachtet, in denen der US-Aktienmarkt wie aktuell, relativ hoch bewertet war (z.B. ein CAPE von über 20), dann ist die Ausfallwahrscheinlichkeit bei einer 4% jährlichen Entnahme deutlichst höher als in der Trinity Studie.

Außerdem haben die meisten Interessierten an der frühen finanziellen Freiheit nicht vor, wie in der besagten Studie, nur dreißig Jahre von diesem Geld zu Leben, sondern oftmals deutlich länger. Ein 45 jähriger Mensch, der nicht raucht und sich gut ernährt, hat heutzutage eine gute Chance 90 Jahre alt zu werden, vielleicht werden es sogar noch ein paar Jahre mehr. Das sind 45 oder 50 Jahre, in denen das investierte Geld einen sicheren jährlichen Cashflow liefern sollte.

Die Studie ging außerdem davon aus, das der Rentner in den dreißig Jahren sein gesamtes Depot verbrauchen darf. „Bestanden“ war die dreißigjährige Entnahmeperiode also auch, wenn sich am letzten Tag noch ein einziger Cent im Depot unseres Beispielrentners fand.

Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich persönlich habe nicht fast zwei Dekaden lang geplant, gespart, und investiert, um später mit den letzten Talern um die Runden zu kommen. Ich möchte auch nicht dazu gezwungen werden, z.B. in zwanzig Jahren wieder irgendwelche Nebenjobs arbeiten zu müssen, weil es gerade eine starke Rezession gibt. Mein Ziel war die Freiheit und keine neue selbstauferlegte Unsicherheit und Beschränkung.

Ich habe deshalb selbst viel mit verschiedenen Tools herumgerechnet und bin deshalb in dieser Marktumgebung mit hoher US-Aktienmarktbewertung und einer hoffentlich langen Entnahmedauer meiner Depots auf meine schon vorgestellte dreiprozentige jährliche Entnahmerate gekommen. Über mehrere Dekaden macht dieses einprozentige Delta im Vergleich zur überall wie ein Mantra wiederholten und verteidigten jährlichen 4% Entnahmerate eine riesengroße Differenz und entscheidet aufgrund des Zinseszins-Effektes darüber, ob jemand als entspannter Millionär aus dieser Welt scheidet oder als gestresster und armer Bettler. Wenn Menschen in US-Foren über finanzielle Unabhängigkeit ähnliche Überlegungen vorstellen, und zum Beispiel auf die aktuell hohe US-Aktienmarktbewertung, oder den längeren Entnahmezeitraum hinweisen, werden Sie von den „4% Dogmatikern“ meistens mundtot gemacht. „Unnötig zu lange gearbeitet; gescheitert schon vor dem Anfang; in der Studie steht doch… usw.“.

Nach meiner Meinung sind auch hier wieder die „Tupperdosenträger mit Ihren sechs Mahlzeiten am Tag“ unterwegs. Sie verschanzen sich hinter einer Idee, die grundsätzlich gut ist und lassen danach keine Optimierungen mehr zu.

Wie dem auch sei: Allen Menschen, die gerne selbst nachdenken und rechnen kann ich heute neben dem schon vorgestellten cfiresim Rechner eine sehr gute englischsprachige Ausarbeitung zu dem Thema von Early-Retirement-Now zeigen. Die Ausarbeitung ist unglaublich gut geworden und ich kann jedem, der an dem Thema interessiert ist, nur empfehlen Sie zu lesen.

Die Hauptergebnisse aus dieser Untersuchung lauten:

– Über einen längeren Zeitraum als 30 Jahre gerechnet, liegt die Ausfallsicherheit eines Depots bei 4% jährlicher Entnahme zu Beginn und dann steigend mit der Inflationsrate und angenommenem Restwert des Depots von mindestens der Hälfte des Anfangswertes bei der aktuellen hohen US-Aktienmarktbewertung nur bei ca. 50-70%!

– Die Lösung, um einen Depotausfall zu vermeiden ist eine Reduzierung der jährlichen Entnahmerate.

– Bei einer jährlichen Entnahme von z.B. 3.25% hat ein US basiertes Index Aktiendepot auch nach 60 Jahren mit ca. 97%iger Sicherheit noch mindestens die Hälfte des Anfangswertes inflationsbereinigt im Depot.

– Bei meiner persönlichen und hier schon vorgestellen 3% jährlicher Entnahme sind wir bei 100% Sicherheit. Das Depot kann, auch bei einem aktuellen Wert von Shiller CAPE 28 nicht scheitern.

 

Jetzt werden bestimmt Einige aufschreien, dass man dadurch ja viele Jahre länger arbeiten muss um von den 4% auf 3% jährliche Entnahmerate zu kommen. Als reines Rechenbeispiel sind bei einer geplanten Entnahme von z.B. 30.000 Euro im Jahr so schließlich nun 1.0 Millionen Euro notwendig anstatt vorher „nur“ 0.75 Millionen. Der Unterschied hört sich unvorstellbar groß für jemanden an, der bisher noch kein sechsstelliges Vermögen angespart und investiert hat.

Was leicht übersehen wird, ist, dass bei diesen Geldbeträgen der Zinseszinseffekt des schon investieren Geldes jährlich viele zehntausend Euro zusätzlich neben der Sparrate auf den schon vorhandenen Geldhaufen wirft. Bei unserer angenommen 5.5% jährlichen Verzinsung nach Inflation und nach deutscher Besteuerung der Dividenden aus einem gestreuten Aktien (ETF) Depot, kommen auf die in unserem Beispiel investierten 0.75 Millionen Euro dadurch jährlich durchschnittlich alleine 41.250 Euro an versteuerten Dividenden und Kurssteigerungen hinzu. Zusätzlich ist das Einkommen bei vielen Menschen an diesem Zeitpunkt der Karriere meistens deutlich höher als zu Beginn und damit auch die Möglichkeit, monatlich viel Geld zu sparen, wenn man es schafft die Lebenshaltungskosten im Rahmen zu halten.

Wer monatlich zum Beispiel 2.000 Euro sparen und am Aktienmarkt investieren kann, hat nach knapp 19 Jahren die Summe von ca. 0.75 Millionen Euro zusammen bekommen. Herzlichen Glückwunsch, wunderbar! Wer dann nur etwas mehr als drei Jahre weiter spart und das investierte Vermögen durch den Zinseszins in der grössten Wohlstandsmaschine aller Zeiten weiter wachsen lässt, ist nun schon bei einer ganzen Million Euro, und somit bei einer 3% Entnahmerate, angekommen! Die Verzinsung des Depots ist also schon vor diesem Zeitpunkt wichtiger als das Sparen selbst geworden. Das investierte Geld hat sich zu einem riesigen Schneeball entwickelt, der einem immer mehr Wohlstand und damit Freiheit bringt.

Vielleicht bin ich einfach in Gelddingen konservativ aber mir persönlich wären es diese gut drei Jahre allemal wert um danach mit 100% Sicherheit Jahrzehnte lang garantiert finanziell frei zu sein anstatt mir bei der aktuell hohen US-Marktbewertung Dekaden lang Sorgen machen zu müssen, ob gerade im Alter das Geld reicht. Für jemanden, der zu Rentenbeginn schon 60 Jahre alt ist und der in einigen Jahren zusätzlich eine staatliche Rente erhält, ist das eine andere Sache und dort kann mit 4% geplant werden, aber für Menschen unterhalb der 50, würde ich das Risiko im aktuellen Marktumfeld nicht eingehen.

Je nach Typ sollte man alternativ zumindest mit einer Nebentätigkeit planen, wenn gerade zu Beginn des Entnahmezeitraums eine starker Bärenmarkt kommt, der die Bewertungen drückt und damit den Depotwert deutlich senkt.

Da ich noch einen langen Zeitraum gemeinsam mit meinen Kindern plane, habe ich auf solche Unsicherheiten keine Lust und deshalb gilt für mich die 3% Entnahmeregel. Mit einer Mischung einiger Aktienmarkt ETF‘s sowie ein paar starken Einzelaktien kommen die drei Prozent dann einfach durch Dividenden zustande. Das gibt zusätzlich ein gutes Gefühl, nie mehr ein Invest verkaufen zu müssen. Dividenden werden historisch auch in Zeiten starker Rezessionen deutlich weniger reduziert als viele Menschen annehmen. Selbst im Crashzeitraum 2008-09 lag die Dividendenkürzung des S&P500 bei nur ca. 20% und stieg ab 2010 schon wieder an.

Falls Du also mit Deiner finanziellen Freiheit schon im vierten Lebensjahrzehnt planst, solltest Du ein paar zusätzliche Sicherheiten einbauen. Entweder wie ich durch eine Absenkung der jährlichen Depotentnahme auf z.B. 3% oder durch andere Maßnahmen wie einer optionalen Nebentätigkeit. Das wird Dich nachts deutlich besser schlafen lassen und das erreichen, weshalb viele Anhänger der finanziellen Freiheit den ganzen Aufwand überhaupt betreiben. Um frei zu werden aber auch um dann lebenslang frei zu bleiben.

Auf die Freiheit!

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